Selbstdarstellung:
Gewiß ein zweifelhaftes Unterfangen, denn die, die es so unterhaltsam
machen, sind selten ganz aufrichtig, und die, die aufrichtig sind, sind
meistens nur fad. Die trockene Auflistung von Tatsachen führt
bekanntlich auch nicht zur Wahrheit. Wieviel "Dichtung" muß man also
beimengen, um zu einer "Darstellung" zu gelangen? Vor die Alternative
gestellt, entweder langweilig oder unaufrichtig zu sein, muß freilich
der Künstler bedingungslos den zweiten Weg wählen. Wie dem auch sei,
unbestritten ist wohl die Tatsache, daß ich von weither komme, denn
Südostengland, wo ich geboren wurde und aufwuchs, ist nicht nur
kilometermäßig sehr weit von Wien entfernt. Meine Kindheit dort war von
Krankheit gezeichnet. Auch das ist belegbar. Etwa von meinem 6. bis 16.
Lebensjahr mußte ich immer wieder der Schule fern bleiben, in meinem 14.
Jahr sogar sechs Monate lang, wobei ich drei Monate bettlägerig war. In
einem Schulsystem, das vor allem den Sport, die körperliche Ertüchtigung
verherrlichte, war ich da naturgemäß Außenseiter. Meine liebe Familie
weiß zwar zu berichten, wie gern ich in die Schule ging. Dagegen ist
meine Erinnerung von der damaligen Zeit vornehmlich von der Überwindung
der Angst geprägt, denn ich war körperlich einfach zu schwach, um mit
den anderen Schülern richtig mitzumischen. Unter diesen Umständen fand
ich eine Zuflucht in der Musik, spielte stundenlang Klavier und fing
schon an, zu komponieren. Rückblickend bin ich felsenfest überzeugt, daß
ich es meiner kränklichen Kindheit zu verdanken habe, daß ich, der
hoffnungsvolle Sproß einer total amusischen, gutbürgerlichen Familie
naturwissenschaftlich-technischer Prägung, zum kaum verhüllten Entsetzen
der übrigen Familienmitglieder Komponist wurde. Vielleicht ist das
wieder nur "Dichtung", aber ich finde beim besten Willen keine
überzeugende Erklärung dafür, warum ich von der mir sowohl durch
Familientradition, wie auch durch eigene Begabung und Zuneigung
vorgezeichneten naturwissenschaftlichen Laufbahn derart kraß und
überraschend ausscheren sollte. Die Entscheidung, Komposition als
Lebensweg und Beruf zu ergreifen (und kein anderer Aspekt der
musikalischen Tätigkeit kam für mich jemals in Betracht), erschien mir
zur Zeit meines Schulabgangs dennoch äußerst gewagt. Es war wie ein
Schritt ins Märchenland, denn außer meinem exzentrischen alten
Klavierlehrer kannte ich keinen einzigen Menschen, der im Bereich der
Musik oder der Künste tätig war. Aber dann mußte ich einrücken. Gott sei
Dank, war ich gerade zu jung, um am Krieg aktiv teilzunehmen, aber ich
mußte dreieinhalb Jahre beim Heer bleiben. Während dieser Zeit war ich
für 15 Monate (April 1946 -Juli 1947) nach Nigeria versetzt, und das war
ein Erlebnis, das ich nicht vermissen möchte.
Ich werde nie den ersten Anblick vergessen, als das Schiff in Takoradi
im heutigen Ghana anlegte, zweier Afrikaner, Hand in Hand in der Sonne
sitzend - Ausdruck einer natürlichen Sinnlichkeit, die mir völlig fremd
war.
Ich werde nie vergessen die schwüle, wolkenbedeckte Hitze von Aba in
Südostnigeria und die atemlose Stille der Abende, wo zuerst die Grillen,
dann die Frösche und zuletzt die Trommeln anfingen, bevor sich kurze
Zeit später die Himmel aufmachten und der Regen in Sturzbächen
hinuntergoß. Denn dort waren die Tage still und die Nächte laut, und
über dem Lande lag eine dunkel brütende Atmosphäre, die ich genauso
wenig enträtseln, wie ich die polymetrische Vielschichtigkeit der
Trommeln entziffern konnte.
Unvergeßlich bleibt mir auch die ungeheure Weite der nördlichen Steppen,
wo man sich unwillkürlich in die Nähe Gottes versetzt fühlt. Da hatte
ich drei Monate lang eine kleine Einheit zu führen und war die meiste
Zeit gänzlich allein mit meinen Afrikanern, eine Situation, die zu einem
fortgesetzten Brüten über die letzten Dinge führte, was für einen so
jungen Menschen wohl nicht ganz ungefährlich war.
So wurde Nigeria für mich zu einem Schlüsselerlebnis. Dort begegnete ich
für das erste Mal Völkern, die nach einer völlig anderen
Lebensphilosophie lebten als wir in England, was zu dem ersten großen
Riß in dem mir anerzogenen Panzer führte. Dort hörte ich auch eine ganz
andere Musik als die, die ich in der Schule kennengelernt hatte. Man
wird zwar vergebens in meiner Musik direkte Merkmale afrikanischer Musik
suchen, aber letztere hat zweifellos mein Gefühl für das
Rhythmisch-Tänzerische, das Kinästhetische in der Musik geweckt, was
dann zum Ausgangspunkt meiner kompositorischen Entwicklung wurde.
Nach meiner Rückkehr von Afrika fiel die Entscheidung: Ich begann 1948
an der Royal Academy of Music in London bei Howard Ferguson Komposition
zu studieren. Er war mir ein guter Lehrer, aber ich strebte ins Ausland.
Der blasse Lyrismus der meisten damaligen englischen Musik war mir
richtiggehend abhold. Ich liebte die trockene Ironie, den federnden
Rhythmus und die antiromantische Haltung eines Strawinskys der mittleren
Periode. Aus dieser Einstellung heraus suchte ich einen kongenialen
Lehrer und fand ihn in Boris Blacher, bei dem ich dann drei Jahre lang
studierte. Mein verehrter Meister hat mir sehr viel gegeben. Ich
bewunderte die Stringenz und die vollkommene Vorurteilslosigkeit seines
Denkens und liebte seine leise Ironie. Als Kompositionslehrer hat er mir
vor allem beigebracht, eine Idee klar darzustellen und zu Ende zu
entwickeln - das, was ich in meiner Weise und unter ganz anderen
Umständen meinen eigenen Schülern beizubringen versuche. Aber nicht nur
der Lehrer, sondern auch das ganze Ambiente war für mich sehr wichtig.
Berlin lag damals noch in Trümmern. Die Musik der Drehorgel erinnerte an
Kurt Weill, und die "Dreigroschenoper" lag noch in der Luft.
Zwangsläufig mußte ich mich mit den Geschehnissen der 20-30er-Jahre
auseinandersetzen und in einer ganz anderen Weise, als ich dies in
England schon getan hatte. Unter anderem lernte ich dort zum ersten Mal
etwas von der jüdischen Kultur kennen, die vor dem Krieg vor allem im
Osten Europas so wichtig war. Dies führte zu einer langjährigen
Beschäftigung damit, ohne die ich meinen Golem nie geschrieben hätte.
Nach Berlin verbrachte ich ein kurzes Jahr in Rom - damals eine
paradiesische Stadt, in der ich mich nur mit äußerster Schwierigkeit zum
Arbeiten zwingen konnte - und dann ein Jahr in London, wo ich arm und
nicht sehr glücklich war. Aus dieser Situation hat mich ein besonders
gut dotiertes Arbeitsstipendium gerettet, das man in England voll
versteuert hätte. Was für ein Anlaß wäre besser, um wieder ins Ausland
zu flüchten? Aber wohin nur? Nach langer Überlegung entschloß ich mich,
es in Wien zu probieren - wenigstens kannte ich hier einen Menschen,
nämlich Gottfried von Einem, der auch bei Blacher studiert hatte und mir
später ein sehr guter Freund wurde. So kam ich 1956 hierher.
Interessanter als die Frage, warum ich kam, ist aber wohl, warum ich
blieb. Erstens konnte man damals in Wien arm sein, ohne sich zu
genieren, was mir sehr wichtig war, weil ich wirklich wenig Geld hatte
und doch entschlossen war, womöglich keinen Brotberuf zu ergreifen.
Außerdem habe ich immer empfunden, daß diese Stadt, die Stadt Nestroys,
das bestmögliche Gegengift ist zu einer Erziehung, so wie ich sie
"genossen" habe. Also blieb ich - ich sagte immer "vorübergehend
ständig" - bis ich 1973 auf einen Lehrstuhl für Komposition an der
Wiener Musikhochschule berufen wurde. Dann mußte ich das Wort
"vorübergehend" wohl oder übel streichen! Ich glaube, ich übertrieb
nicht, als ich anfangs behauptete, ich sei von weither gekommen. Ich
meine aber, daß man dies auch von meiner musikalischen Entwicklung sagen
kann. Von der Ironie und den Tanzrhythmen meiner frühen Oper Volpone
über die dunkleren Töne und das Rubato von Der Golem bis hin zu den
Klangflächenelementen und den Einflüssen aus der elektronischen Musik in
meinen späteren Werken, wo Takt und Tanz sich beinahe aufgelöst haben,
das ist wohl ein langer Weg, und jede Station dieses Weges ist für mich
unzertrennlich mit einer Reise verbunden. Aber das wäre eine andere
Geschichte, wie der Märchenerzähler sagte, als er seinen Hut die Runde
gehen ließ. Hauptsache: die Reise geht weiter ...
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